Apfel-Wedges und Sackmesser

Aus der Rubrik „El Kurdis Kolumne“

Vor sechzehn Jahren kaufte ich mir in der „Messerschmiede Ottenburg“ in Basel ein „Sackmesser“, wie die Schweizer ihre Taschenmesser nennen. Dieser Begriff ist durchaus logisch, weil ein schweizerdeutscher „Sack“ auf Hochdeutsch einfach nur eine „Tasche“ – zum Beispiel eine Hosentasche – ist. „Taschengeld“ heißt dementsprechend selbstverständlich „Sackgeld“. „Hochdeutsch“ sagen die Schweizer übrigens auch nicht, sondern „Schriftdeutsch“, weil sie diese Sprache untereinander nicht sprechen, sondern in der Schule nur zum Lesen und Schreiben erlernen. Schweizerdeutsch ist auch ansonsten oft gleichzeitig extrem logisch und originell: „Grillen“ heißt „grillieren“, Strohhalm „Röhrli“ und Leitungswasser „Hahnewasser“. Schöner ist eigentlich nur noch Niederländisch, das allerdings im Gegensatz zu den verschiedenen schweizerdeutschen Dialekten eine eigene Sprache ist. Die Niederländer sagen zum „Meer“ „zee“ und zum „See“ „meer“. Das niederländische „bellen“ heißt auf deutsch: klingeln oder anrufen. Das deutsche „bellen“, also das Hundebellen, heißt in Holland „blaffen“. Die Niederländer tun das alles, glaube ich, nur um uns Deutsche zu verwirren. Das gefällt mir gut.

Doch zurück zum damals von mir in Basel erworbenen Taschenmesser: Es hatte mehrere Klingen, eine Schere, einen Schraubendreher, einen Dosenöffner, eine Pinzette und diverse andere Funktionen, die ich bis heute nicht verstanden habe. Zuvor hatte ich nie das Bedürfnis oder die Notwendigkeit gespürt, ein solches Werkzeug zu besitzen.

Aber eines Tages saß ich bei einer Veranstaltung im Schauspielhaus Wuppertal neben dem Hörspiel-Regisseur Klaus-Michael Klingsporn. Ich war ihm vorher noch nie live begegnet, er aber hatte ein von mir geschriebenes Kinderhörspiel für das Deutschlandradio Kultur inszeniert. Und das ziemlich gut. Ich war froh, dass er nicht nur in seiner Funktion, sondern auch als Mensch angenehm war. Sonst hätte ich immer, wenn mich jemand nach ihm fragte, sagen müssen: „Als Regisseur ist er tippitoppi, aber menschlich ‘ne Sau“. Tatsächlich kenne ich Personen, über die ich so reden muss. Spaß macht es keinen, aber man ist ja als Künstler der Wahrheit verpflichtet.

Der nette Herr Klingsporn bemerkte sofort, dass ich in der Bredouille war: Meine damals knapp dreijährige Tochter vollführte auf meinem Schoss eine extrem eindrucksvolle „Boah, is mir öde“-Gymnastik und drohte, die Veranstaltung zu sprengen. Schließlich verlangte sie – wissend, dass ich keine solchen besaß ­– nach Apfelschnitzen. Oder Apfelspalten. Keine Ahnung wie ihr die halbmondförmigen Stücke eines vom Kerngehäuse befreiten Apfels nennt. Hipster sagen dazu wahrscheinlich „Apfel-Wedges“. Ich hatte aber, wie gesagt, weder Schnitze, Spalten noch Wedges. Klaus-Michael Klingsporn schaute mich an, dann meine Tochter, nickte –griff in seine Tasche und präsentierte die Lösung: Einen Apfel und ein Werkzeug, um die gewünschte Darreichungsform herzustellen – sein rotes Victorinox-Taschenmesser.
Dankbar nahm ich das Angebot an. Augenblicklich produzierte ich vor den faszinierten Augen meiner Tochter eine Apfelspalte nach der anderen und steckte sie ihr in den Mund. Jedes Mal, wenn sie fertig gekaut und geschluckt hatte, schob ich die nächste nach. Apfel und Preisverleihung endeten gleichzeitig. Friedlich. Ich wischte das Messer mit einem Tempotaschentuch ab, klappte es zusammen und gab es Klingsporn mit Dank zurück. Er sagte: „Kauf dir mal eins. Wennde‘n Kind hast, brauchst‘n Taschenmesser.“

Da Klingsporn mir nicht nur ein patenter und hilfsbereiter, sondern auch ein weiser Mann zu sein schien, kaufte ich wenige Tage später bei einer Lesereise in die Schweiz ein Messer. Es leistete mir in den folgenden Jahren gute Dienste als Vaterwerkzeug: Ich trug es stets bei mir – viele meiner Jeans haben einen sichtbaren Messerabdruck auf der rechten Vordertasche. Ich schnitt mit diesem Messer Fantastilliarden Apfelspalten, zog mit der Pinzette Holzsplitter aus Fingern, Füßen und anderen Körperteilen, bastelte damit extrem schlecht segelnde Flugdrachen, schnitt mit der Schere im Urlaub Heftpflasterstreifen und Kinderfußnägel, öffnete Raviolidosen, schälte Orangen und entkapselte Saft- und Limoflaschen. Und auch die eine oder andere Bierflasche. Letztere zu meiner Regeneration.

Ich ließ das Messer immer mal wieder nachschärfen, reinigte es, ölte es, irgendwann musste ich die roten Außenhartschalen austauschen, weil sie wegbröckelten …

Letzten Monat habe ich das Messer in die Schublade gelegt. Das Kind ist ausgezogen.

Hartmut El Kurdi


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