Herr Weil, schon bei unserem Treffen vergangenen Monat haben wir festgestellt, dass Europa uns beiden am Herzen liegt. Machen sie darum ruhig mal ein bisschen Wahlkampf für Europa und für alle proeuropäischen Parteien. Wer ernsthaft zweifelt, ob er für Europa sein soll, der darf gerne mal Richtung Großbritannien gucken. Was dort gerade passiert, sollte Europagegner sehr, sehr nachdenklich machen. Jetzt erst erkennen viele Briten, wie wichtig beispielsweise Europa für Ihre Wirtschaft ist. Wenn es etwas Positives gibt, was man dem Brexit abgewinnen kann, dann, dass er hoffentlich diese Nachdenklichkeit fördert. Es gibt sehr gute und harte Argumente für Europa. Von der Europäischen Gemeinschaft hängt ein Großteil unseres Wohlstands ab. Und Menschen meiner Generation kennen noch einen ganz anderen Zustand, ohne offene Grenzen und gemeinsame Währung. Europa hat uns ein hohes Maß an persönlicher Freiheit gebracht. Und fragen Sie mal einen Historiker, wann es seit der Besiedelung der norddeutschen Tiefebene bei uns eine Phase gegeben hat, in der über siebzig Jahre lang ununterbrochen Frieden und politische Stabilität geherrscht hat? Der Historiker wird ihnen antworten, dass es so eine Zeit zuvor noch nie gegeben hat. Genau das verdanken wir unter anderem der EU. Es ist darum ein Muss, zur Europawahl zu gehen und die eigene Stimme bitte einer klar proeuropäischen Partei zu geben.
Trotzdem muss sich die EU in ihrem jetzigen Zustand durchaus sehr viel Kritik gefallen lassen. Wie sich die einzelnen Mitgliedsländer verhalten, ist teils sehr fragwürdig und mit demokratischen Grundprinzipien fast nicht mehr vereinbar. Man verweigert beispielsweise die Solidarität, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Man exportiert Waffen in irgendwelche brisanten Gegenden. Man ist weit entfernt, für einen fairen Handel zum Beispiel mit Afrika zu sorgen. Man ist weit entfernt, genug für den Klimaschutz zu tun. Die Liste ist lang. Und vor allem junge Menschen sehen das alles zunehmend kritisch. Warum soll ich also mit meiner Stimme ein Konstrukt unterstützen, das sich derart in Schieflage befindet. Damit es einfach so weitergeht? Natürlich ist Europa nicht perfekt. Es geht in einer Demokratie immer darum, etwas zum Positiven zu verändern. Das ist für mich das Wesen der Demokratie. Dass man sich die unterschiedlichen Ideen und Vorschläge der Parteien anschaut. Wer möchte Europa wie in eine für alle Menschen positive Richtung lenken? Dann kann man je nach den eigenen politischen Vorstellungen sein Kreuz machen. Nicht zur Wahl zu gehen würde bedeuten, das Feld in Gänze den destruktiven Kräften zu überlassen, die den Euro abschaffen und sich am liebsten in ihren Nationalstaaten einmauern wollen. Ich verstehe viele Kritikpunkte an der EU wirklich sehr gut. Aber was würde ich erreichen, wen ich nicht zur Wahl ginge? Geht es darum, als Nichtwähler seinen Protest an den herrschenden Zuständen auszudrücken? Entschuldigung, aber das halte ich für komplett falsch. Es muss darum gehen, sein Kreuzchen konstruktiv zu setzen.
Dann geht man also hin und wählt das kleinste Übel? Ich würde immer vom relativ Besten sprechen. Demokratie bedeutet Kompromiss. Es gibt unterschiedliche Interessen, die Politik muss für einen Ausgleich sorgen. Für mich ist das Glas halb voll und nicht halb leer. Und sein Inhalt ist wertvoll, wir dürfen es nicht einfach zerschlagen. Die Briten führen dieses schlechte Theaterstück nun seit einer Weile auf. Man muss in einer Demokratie genau hinsehen, sich Parteien und Programme ansehen, den eigenen Verstand bemühen und dann die Partei wählen, die den eigenen Vorstellungen am nächsten kommt. Sich ganz abzuwenden, weil es nirgends hundertprozentig passt, ist Nonsens. Das. Macht. Keinen. Sinn.
Europa besser zu machen, das scheint momentan ein bisschen schwierig zu sein. Da kommt ein Macron mit Vorschlägen, die teilweise auch von der Europäischen Kommission als sehr konstruktiv aufgenommen werden, und er streckt die Hand aus Richtung Deutschland, aber niemand greift wirklich zu. Zumindest nicht Frau Merkel oder Frau Kramp-Karrenbauer. Ich finde, Europa muss sich stärker auf wesentliche Punkte konzentrieren und in anderen Bereichen weniger reglementieren. Zur Hannover Messe hat mich hier der italienische Botschafter besucht und mir von der unglaublich hohen Jugendarbeitslosigkeit in Italien berichtet. Da findet eine ganze Generation keinen Job. Dass diese Generation von Europa nicht gerade begeistert ist, finde ich sehr nachvollziehbar. Um diese jungen Menschen müssen wir uns schleunigst kümmern. Die Europäische Union hat nach der Weltfinanzkrise den ganz großen Fehler gemacht, nicht entschieden genug für Investitionsanreize zu sorgen. Auch Deutschland hat viel zu wenig um die Interessen der Gemeinschaft gekümmert, sondern die eigenen, nationalen Interessen in den Vordergrund gestellt. Man war in erster Linie auf den eigenen Vorteil bedacht. Das ist dann wie in einer Fußballmannschaft, in der alle versuchen, möglichst nur selbst gut auszusehen. So eine Mannschaft wird keinen Erfolg haben.
Die Italiener fühlen sich auch mit den Flüchtlingen sehr alleine gelassen.
Das ist leider ein weiteres Beispiel für ein echtes Desaster innerhalb der EU. Viele Italiener fühlen sich vollkommen zu recht total im Stich gelassen von Europa in der Flüchtlingsfrage. Und eigentlich müssten wir das in Deutschland sehr gut nachvollziehen können, uns ist es nämlich im Herbst 2015 und im Winter 2015/16 auch so gegangen. Aber Europa hat bis heute noch immer kein Konzept, gemeinsam vernünftig auf die Lage zu reagieren. Das ist ein großer Fehler und wenn einige Akteure weiter auf der Bremse stehen, so wie zum Beispiel Herr Orbán aus Ungarn, dann müssen einzelne Länder vorangehen, beispielsweise Deutschland und Frankreich. Wir dürfen angesichts der Not der Menschen und der schwierigen Lage Italiens nicht so lange warten, bis auch beim Letzten der Groschen gefallen ist.
Braucht es jetzt eine Politik der kleinen Bündnisse? Ja. Wir brauchen ein Europa der zwei Geschwindigkeiten. Das kann nur ein Zwischenschritt sein und nicht das Ziel der gesamten Veranstaltung. Aber wir dürfen es nicht zulassen, dass die ganze Europäischen Gemeinschaft ins Stocken gerät, weil einige Beteiligte sich nur die positiven Effekte der EU herauspicken und Verpflichtungen ablehnen. Also brauchen wir kleine Bündnisse zwischen möglichst vielen Staaten, die vorangehen – immer mit der Einladung an alle anderen, den eingeschlagenen Weg mitzugehen. Das wird die Realität in den kommenden Jahren sein. Es gibt momentan einfach zu große, ja teils sehr extreme Unterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten. Wenn wir zu lange auf gemeinsame, einstimmige Beschlüsse warten, verliert die EU ihre Dynamik und ihre Glaubwürdigkeit.
Um welche Themen muss es bei so einem Aufbruch zuerst gehen? Zwei der Hauptthemen habe ich ja schon angesprochen. Es muss um die Sicherstellung wesentlicher sozialstaatlicher Elemente in Europa gehen und um einen fairen Umgang mit Geflüchteten. Und es geht um die ökonomische und ökologische Entwicklung Europas. Wir stehen als Europäische Gemeinschaft in einem weltweiten Wettbewerb. Die Chinesen sprechen gar nicht über Deutschland, mit unseren 80 Millionen Menschen werden wir kaum wahrgenommen. 500 Millionen Menschen in Europa haben dagegen schon mehr Gewicht.
Was ist mit der Haltung? Wie geht Europa mit der Armut in der Welt um? Viele vermissen Antworten auf diese Fragen. An Worten fehlt es bei diesen Themen meist nicht, konkret wird es seltener. Es ist absurd, dass in Berlin immer mal wieder laut darüber nachgedacht wird, die Ent-wicklungshilfe zu kürzen. Noch wichtiger aber wäre es, den Menschen in ärmeren Regionen dabei zu helfen, die eigene Wirtschaft aufzubauen statt dort zu Ausbeutung und Umweltzerstörung beizutragen. Wir müssen uns beispielsweise sehr viel stärker für fairen Handel einsetzen, verbindliche unternehmerische Sorgfaltspflichten einfordern und nachhaltigen Pro-dukten einen vorrangigen Marktzugang gewähren.
Braucht es für Europa mehr Obama, mehr Pathos und Vision? Es braucht jedenfalls häufiger den Blick auf den gesamten Wald. Wir arbeiten uns manchmal sehr an den einzelnen Bäumen ab und sehen nicht das Große und Ganze. Aber es braucht immer auch einen klaren Blick auf das Machbare. Ich sag es mal mit Wilhelm Raabe: „Blick auf zu den Sternen und gib acht auf die Gassen.“