Aus der Rubrik „Küchenpsychologie“
15 Minuten vor dem Verlassen der Wohnung: Fenster zu, Fenster auf, Fenster zu, Fenster auf, Fenster zu, Fenster auf, Fenster zu. Steckdosen überprüfen und ggf. Kabel ziehen. Herd in Augenschein nehmen und ggf. ausschalten. Fenster auf, Fenster zu. Steckdosen prüfen. Herd betrachten, Steckdose betrachten, Fenster betrachten. Wohnungstür öffnen. Fenster, Steckdosen, Herd betrachten. Durchatmen. Raus aus der Wohnung, rein in die Wohnung, raus, rein, raus, Wohnungstür schließen. Abschließen, aufschließen, abschließen, aufschließen, rein in die Wohnung, raus aus der Wohnung. Abschließen, aufschließen, abschließen. An der Tür rütteln. Zum Beginn der Treppe gehen, zurückkehren, Wohnungstür anschauen. Durchatmen, innehalten – und endlich fortgehen… (Wer jetzt den Regenschirm vergessen hat, ist angeschmiert.)
Klingt anstrengend, ist es auch. Der Zwängler leidet – ganz besonders, wenn der Zwang so ausgeprägt ist, dass er das Haus gar nicht mehr verlassen kann. Wer gar nichts besitzt, ist womöglich glücklicher: Dann kann die Wohnung ruhig abfackeln oder geflutet werden. Wer jedoch liebgewonnene Haustiere, Fabergé-Eier oder Nachwuchs zurücklässt, der bangt halt. Was tun? Gesprächstherapie? Damit einem jemand, der keinen Kontrollzwang hat, erklärt, dass man einfach mit der Angst zu leben lernen müsse. Leicht gesagt: Ist ja im Zweifelsfall auch nicht sein Nachwuchs, der da abfackeln würde. Davon abgesehen, kommt jeder Idiot auch selbst auf solch eine Antwort. Wenn gar nichts mehr geht, mag eine Gesprächstherapie unumgänglich sein. Ansonsten führt man die erst einmal selbst bei sich durch. Zwängler, die zugleich Selbstgespräche führen, sind klar im Vorteil!
Den Zwängler bedroht nur die Gefahr, dass die Zwangshandlung – statt Sicherheit zu schenken – zum puren Automatismus verkommt und dann keine Sicherheit mehr bietet. (Dieses Sicherheitsbedürfnis ist ja verständlich: Wer bei einem Wohnungsbrand den Nachwuchs verloren hat, wird ein Lied davon singen können.) Wichtig wäre also das Wahren des gesunden Maßes. Ein Ritual muss her, das dem Automatismus vorbeugt: Prüfen, Schließen und Ausschalten benötigen einen Rhythmus in der Bewegung – und vorzugsweise auch im Ton! Das Fenster mit einem gewissen Elan geschlossen, dabei laut geschnalzt und geschnipst – das vergisst man nicht so leicht. Im Anfangsstadium hilft das Ritual. Doch verkommt es seinerseits bald zum Automatismus und muss dann variiert werden. Der Rhythmus wird komplexer, Schnalzen und Schnipsen werden zum Happening, zur Performance. Zwängler haben meist eine künstlerische Ader! (Andere installieren daheim eine Kamera und kontrollieren unterwegs per Handy – was das Problem aber bloß verlagert: Tasche auf, Handy raus, Wohnung anschauen, Handy rein, Tasche zu, auf, raus, anschauen, rein, zu, auf, raus…)
Jetzt beginnt das wahre Zeitproblem: Irgendwann muss die Performance minimalistischer werden, sonst hält einen der Zwang fest in den Klauen und raubt einem die Zeit. Wie gelangt man zur Reduktion des eigenen Zwangsneurosen-Erste-Hilfe-Rituals? Besonnenheit heißt die Antwort; oder Achtsamkeit. Man muss seiner Gegenwärtigkeit entkommen und ins reine Dauern fliehen: nicht im Jetzt das Zuvor erinnern, sondern bewusst die Dauer des Dazwischens leben. Man entschlackt sein Ritual, durchfühlt aber seine komplette Durchführung so bewusst wie möglich: Durchfühlung quasi. (Nicht verstanden? Macht nichts, solange Sie kein Zwängler sind.) So hat man sich im Griff. So kann man sich auf der Straße bewegen – und die wirklich ordentlich geschlossene Haustür ist nicht mehr bloß etwas Abgeschnitten-Vergangenes und nur noch Erinnertes, sondern Teil kontinuierlich bewusst durchlebter Dauer. Das hilft! Wer jetzt allerdings noch an möglichen Wahrnehmungsstörungen verzweifelt und sich daher schon direkt vor der fest geschlossenen Tür ihrer Geschlossenheit nicht sicher ist, dem ist wahrlich nicht zu helfen.
Alle anderen müssen bloß ihren Kontrollzwang kontrollieren lernen, um seiner Ausartung ins Ungesunde vorzubeugen. Ist ganz einfach! Und keine Kontrolle wäre auch keine Antwort. (Groß-/Kleinschreibung korrekt? Groß-/Kleinschreibung korrekt! Interpunktion korrekt? Interpunktion korrekt! Ausdruck geprüft? Geprüft! Abgespeichert? Abgespeichert! Leerzeichen eingefügt, nochmals abgespeichert! Leerzeichen entfernt, abgespeichert; eingefügt, abgespeichert, entfernt, abgespeichert, ent-, ab-, ein-, ab-, e-, a-, e-, a-… Fertig!)
Christian Kaiser