Aus der Rubrik „Ein offener Brief“
Liebes Testosteron-Männchen, ich bin soooooo neidisch! Ich wär so gern wie du. Nicht lange reden und fackeln, einfach mal anfassen und grunzen. Trainieren in der Muckibude, sich dabei im Spiegel geil finden und den eigenen Schweißgeruch mögen. Vor Kraft kaum gehen können, breitbeinig mit richtig mächtigen Eiern. Mit fast 300 Sachen links vorbeiziehen. Einfach einer von diesen weißen, von sich selbst total überzeugten Männern sein.
Selbstbewusst bis zum Mond. Einfach mal ohne jeden Zweifel den Größten haben. Hach, das wäre was. Wenn mir einer krumm kommt, einfach Schläge androhen. Und falls der der nicht direkt den Schwanz einzieht, direkt voll auf die Zwölf. Nie zuhören. Keine Geduld haben. Sich ganz selbstverständlich nehmen, was da ist. All die guten Sachen in den Auslagen. Einfach zugreifen! Und am Wochenende mit dem Luftgewehr auf Gutmenschenärsche schießen. Oder halt golfen gehen. Wie geil wäre das denn? Den Verstand einfach mal abschalten. Tun und lassen, wozu man Lust hat und drauf pfeifen, was die anderen denken und sagen.
Aber ich komme irgendwie nicht hinter das Geheimnis, liebes Testosteron-Männchen. Ich kann das alles nicht. Ich habe schon alles probiert, ich habe tonnenweise Fleisch gegessen und tagelang Actionfilme geglotzt und übereifrig die Men‘s Health studiert. Bei mir passiert gar nichts. Beziehungsweise passiert schon eine Menge, aber nicht das richtige. Da sitzt jetzt zwar auf der einen Schulter hin und wieder mal das kleine Testosteron-Männchen und flüstert mir sexistische Bemerkungen ins Ohr, mit der Aufforderung, dass ich es einfach mal rauslassen soll. Aber auf der anderen Seite sitzt da dieser „Ja-aber-Typ“, der mich daran erinnert, mir das alles doch noch mal durch den Kopf gehen zu lassen. Was ich dann natürlich auch prompt erledige. Und dann sehe ich plötzlich die Konsequenzen und denke: Besser nicht! Es ist zwar ein schöner Arsch und es würde sicher lustig klatschen, wenn ich mit der flachen Hand zulangen würde, aber im Anschluss würde es eben auch in meinem Gesicht klatschen und dann würde auch noch die Tür meines Arbeitgebers vor meiner Nase zuknallen, weil ich garantiert meinen Job verlieren würde und so weiter und so weiter. Das ist doch traurig. Ich zergrüble jeden männlichen Impuls. Ich könnte niemals einen Krieg anfangen. Oder mit nacktem Oberkörper im Vorgarten arbeiten, wenn ich mir nicht vorher den Bauchansatz vollständig wegtrainiert hätte (mit Tipps aus der Men‘s Health, versteht sich). An meinem Hemd sind auch bei kleinstem Bauchansatz im Sommer alle Knöpfe zu. Ich möchte doch niemandem mit meiner untrainierten Plauze unter die Augen treten. Wie peinlich wäre das denn? Das bringe ich nicht.
Warum bringen das die anderen? Ich verstehe das nicht. Muss ich noch mehr Fleisch essen? Bei mir wirkt das nicht. Neulich habe ich von so einem Test gelesen. Männer wurden in Amerika mit Testosteron gefüttert. Frage: Was hat das mit ihrer Intelligenz gemacht? Antwort: Die Männer mit Testosteron haben auf die Testfragen schneller falsch geantwortet. Testosteron macht also dümmer und gleichzeitig selbstbewusster. DAS WILL ICH AUCH! Aber wo kriege ich das?
Ich glaube fast, ich bin einer von diesen domestizierten heterosexuellen Männern ohne Würde, über die sich Gloria von Thurn und Taxis gerne mal auslässt. Ja, ich bin nicht mal schwul! Ich habe überhaupt keine Entschuldigung. Ich gehöre einfach nicht dazu. Ich bin kein dicker, weißer Mann ohne Verstand. Ich bin ein halbwegs normaler Mann. Verdammt, ich lese zwischendurch sogar mal ein Buch. Heimlich! Weil ich mich schäme. Ich habe nicht mal einen richtigen Bauch. Ich bin nur weiß, mehr nicht. Das alles ist so ungerecht. Es funktioniert bei den meisten Tieren, es funktioniert ganz offensichtlich bei vielen Männern – und diese Männer schaffen es gerne auch noch ganz nach oben. Aber bei mir funktioniert gar nichts. Ich habe keine Lust, anderen zu imponieren, ich habe keine Lust, mit anderen meine Kräfte zu messen und meinen „Begattungsdrang“ habe ich auch super im Griff (das mit dem Griff jetzt bitte nicht falsch verstehen). Was bringt mir das? Okay, keine großen Klagen. Aber das ist auch schon alles. Liebes Testosteron-Männchen, verrate mir doch bitte, bitte dein Geheimnis. Ich wäre soooooo gerne wie du. Ich möchte ein Krieger sein. Wenigstens ein bisschen. Ich will mit dem Säbel rasseln, wenn du versteht, was ich meine. Aber nein, du verstehst es nicht. Du verstehst es ganz sicher nicht.
VA