Das Rolling-Stones-Paradoxon und das Thomas-Mann-Syndrom

Ich würde so jung wirken, sagte neulich ein Mann zu mir. Alles, was ich tun würde, sei so jung. Diese Beobachtung stimmt seltsamerweise nicht mit meinem eigenen Empfinden überein. Denn tatsächlich fühle ich mich in doppelter Hinsicht alt: In mir wohnt eine alte Seele, gefangen in einem mittelalten Körper. Und dann kommt da einer und sagt so was. Verwirrend.

Nun ist das Leib-Seele-Problem in der Philosophie ja kein kleines. Und die Frage, wie sich der Geist zum Körper verhält, hat von Platon bis Schrödinger alle großen Köpfe auf Trab gehalten und lässt sich nicht mal eben schnell beantworten. Dennoch habe ich im Laufe der Zeit einige Theorien entwickelt, mit denen ich grobe Widersprüche einleuchtend erklären kann. Wenn also am Stammtisch mal wieder über alte Säcke mit jungem Spirit oder jugendliche Spießer mit Methusalem-Ansichten diskutiert wird, hantiere ich lässig mit Begriffen wie „das Rolling-Stones-Paradoxon“, „das Thomas-Mann-Syndrom“ und „der Opa-Piepenbrink-Komplex“.

Aber der Reihe nach: Einerseits gibt es nun mal vergreiste Existenzen, die – im übertragenen Sinn – schon als Baby einen grauen Hut zur Glatze getragen haben. In der Schule waren sie stets darum bemüht, immer zu den Ersten zu gehören, geboren, um nach dem Schachtelprinzip im gesellschaftlich anerkannten Kastensystem zu sterben. Und es gibt Iggy Pop … Punkt. Iggy Pop und das Rolling-Stones-Paradoxon. Und darauf kommen viele nicht klar. Dass da also ein alter Sack mit der Lederhaut einer gebrauchten Handtasche und dem Faltenwurf eines Barockkleids durch die Gegend rennt, oberkörperfrei wie ein 16-jähriger Sponti, der sich täglich einen runterholt. Motto: So einer passt nicht in die natürliche Ordnung rein, warum trägt der keinen beigefarbenen Regenmantel und kümmert sich um seine Enkelkinder?

In die Iggy-Pop-Kategorie wurde ich ja neulich mehr oder weniger von diesem Mann gesteckt, der zu mir sagte: „Du bist so jung in allem, was du tust.“ Was sollte das heißen? Im Gespräch kamen wir darauf. Ich lebe wie ein abgerissener Student ohne den gediegenen Standardkomfort, der normalerweise typisch ist für den Hausstand einer mittelalten Frau. Mit anderen Worten: Ich lebe provisorisch. Ich lebe nicht in einer gesellschaftlich anerkannten Schachtel, sondern in einer, die eher leer ist. Positiv ausgedrückt: Bei mir ist alles offen. Ich habe mich nicht auf eine Einbauküche (von welchem Hersteller auch immer) festgelegt. Und noch positiver formuliert: Ich bin nicht stehengeblieben, schaue mich um. Die Nostalgie verbrennt mich nicht. Ich höre nicht nur Platten von anno dazumal, in meinem Fall also das Beste aus den 80er-Jahren, Depeche Mode zum Beispiel.

Musik ist ja immer ein guter Katalysator, wenn es ums Alter geht. Die Generation, der man gerade zufällig angehört, ist natürlich die geilste überhaupt. Da geraten alle schnell ins Schwärmen, setzen sich in die Zeitmaschine und erzählen von früher, sobald ein alter Gassenhauer von Depeche Mode im Radio läuft. Die Entzauberung folgt auf dem Fuß, wenn man bei einem Konzert der Band dabei ist. Da schaut man in der riesigen Arena plötzlich in den Spiegel: Boah, sehen die alle alt aus (abgesehen von Dave Gahan). Ich etwa auch? Wer dann nach der Show trotzig weitermacht, nicht zurück in seine Schachtel kriecht und noch ein paar Bier draufkippt, landet ganz schnell im Rolling-Stones-Paradoxon, kurz RSP. Und das geht so: Du trinkst einen Schluck Bier, spürst, wie die erweiterten Äderchen in deinem Gesicht aufblühen, und säufst weiter. Du gehst in die Baggi, merkst, dass die Zeit auch in diesem Club nicht stehengeblieben ist, und schüttest weiter Alkohol in dich rein. Auf dem Dancefloor gucken die jungen Leute dich scheel von der Seite an, der Ausdruckstanz, den du aufs Parkett legst, kommt bei ihnen nicht gut an. Später zitierst du draußen auf der Straße lauthals Tocotronic – „Aber hier leben, nein danke“ – und schreist plötzlich grundlos los: „Ich versaue mir mein Leben absichtlich! Nicht weil ich jung bin, sondern weil ich es immer noch kann!“ Iggy Pop, Rosi Freese und Udo Lindenberg machen es vor. Sie legen keinen Wert darauf, erwachsen zu werden, kommen aber auch so durch. Das einzige Problem für den im Rolling-Stones-Paradoxon gefangenen Nobody: Er heißt nicht Iggy Pop, Rosi Freese oder Udo Lindenberg, sprich er hat keinen Namen und somit keine Rechtfertigung für sein kindisches Verhalten. Er sieht alt aus und rennt nachts krakeelend über die Straße. Unschön.

Einfacher haben es da jene, die am Opa-Piepenbrink-Syndrom, kurz OPS, erkrankt sind. Das sind nicht unbedingt die, die gleich nach dem Depeche-Mode-Konzert nach Hause gehen. Sondern eher jene, die sich – unabhängig vom Alter – nicht von verkrusteten Denkmustern befreien können und irrsinnig vernünftig leben, weil sie sich gar nichts anderes vorstellen können. Es sind die „Scherenschnitt-Mensch“, über die Benjamin von Stuckrad-Barre schreibt: „Nach 20 Jahren wollen die Leute Ergebnisse sehen, da hat das Leben fertig zu sein und die Suche beendet, sonst wird es lächerlich.“ Das „Leben als Dreiakter“ sei ihr Ding, sagt er. Ich sage: Die Jugend ist nicht die Zeit der Scherenschnitt-Menschen, erst das Alter bringt ihnen Linderung. Sie wachsen im Laufe der Zeit optimal in ihre Opa-Piepenbrink-Rolle hinein. Klappe zu, Affe tot.

Das Thomas-Mann-Syndrom, kurz TMS, ist wiederum weitaus komplizierter, umfassender und gleichzeitig peinlicher als das Rolling-Stones-Paradoxon. Das TMS zeigt auf brutale Weise, dass Älterwerden nichts für Kinder ist. Den Begriff habe ich von Thomas Mann abgeleitet. Über diesen Autor ist bekannt, dass er sich auch in hohem Mannesalter nicht von seiner Kindsköpfigkeit und seinen jugendlichen Grillen abbringen ließ und in einem Kurhotel vor den Augen seiner Familie und seiner Frau für einen blutjungen Kellner schwärmte und – für alle ersichtlich – nach ihm schmachtete.

Alte Säcke, die lustvoll nach Jünglingen lechzen! Bis heute ist das TMS ein Tabuthema, das in der Rangfolge knapp hinter Guantanamo rangiert. Aber seien wir doch mal ehrlich und sprechen es aus: So was kommt vor. Ich setze noch einen obendrauf: So etwas passiert nicht nur Thomas Mann, ich hatte auch mal so ein Problem. Es geschah nachmittags am helllichten Tag an einem Strand, als ich mich dabei ertappte, wie ich einer relativ jungen, gut gebauten männlichen Servicekraft hinterhergaffte. Total peinlich? Senioren verzeiht man so einen Fauxpas im umgekehrten Fall eher. Alte
Böcke halt. Aber eine Frau, die im Verhältnis zum Objekt ihrer Begierde alt ist? – Eine geile junge Frau geht. Da können sich vor allem die Kerle etwas drunter vorstellen. Aber eine geile Alte? Mit TMS?

Betretenes Schweigen, ich spüre es. Und darum breche ich eine Lanze für die vom Thomas-Mann-Syndrom und Rolling-Stones-Paradoxon Befallenen, also auch für mich: Leute, ihr seid ganz normal! Don’t worry! Ein Hinweis auch für jene, die heute noch jung sind und nicht ahnen, dass sie morgen schon alt aussehen: Manchmal vergisst man, in welchem Körper man gerade steckt. Im Kopf ist man idealerweise das ideale Individuum, das einfach und unschuldig nach seiner Entsprechung sucht. Das ist nicht peinlich, sondern menschlich. Wichtig ist nur die Tatsache, dass jeder ab einem gewissen Alter für sein Gesicht verantwortlich ist.   

Simone Niemann


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