Herr Weil, in den letzten Monaten wurde viel über gespaltene Gesellschaften diskutiert. In Amerika, in vielen europäischen Ländern, auch bei uns. Und das Thema kocht immer wieder hoch. Wenn zum Beispiel eine neue Studie zu den Vermögens- und Einkommensverhältnissen veröffentlicht wird, wenn „die anderen“ auf Facebook hetzen oder wenn bei Wahlen „die anderen“ zu viele Stimmen bekommen. Ist die Gesellschaft in Deutschland gespalten aus Ihrer Sicht?
Ja, das ist sie. Wobei sich das natürlich ein bisschen differenzierter darstellt, als der Begriff Spaltung das umschreibt. Wir sehen bei den Einkommen seit etwa eineinhalb Jahrzehnten die Entwicklung, dass die oberen fünf bis zehn Prozent der Gesellschaft stark zugelegt haben, während die Mitte und die Geringverdiener deutlich dahinter zurückgeblieben sind. Die Schere ist also größer geworden. Die sogenannte Mitte existiert bei uns aber nach wie vor, und ich empfinde sie auch immer noch als sehr stark. Die unteren zehn Prozent verlieren zunehmend den Anschluss. Es gibt teilweise bereits einen großen Abstand zur gesellschaftlichen Mitte und das zieht sich durch mehr als eine Generation. Darüber müssen wir uns Sorgen machen, damit kann niemand zufrieden sein.
Bei uns verfügen die obersten zehn Prozent der Haushalte über gut 50 Prozent des Nettovermögens. Ein Gleichgewicht sieht anders aus, die Gegensätze scheinen mir insgesamt sehr ausgeprägt.
Das ist völlig unbestreitbar. Die Vermögenden und Einkommensstarken sind immer stärker geworden, bei den anderen hat sich die Situation, wenn überhaupt, nur marginal verbessert. Es gibt Zuwächse, aber die nehmen sich sehr bescheiden aus im Verhältnis zu dem, was die oberen zehn Prozent dazubekommen haben.
Die Hans-Böckler-Stiftung hat genau das mit einer Studie bestätigt. Unterm Strich war das Ergebnis: Wer arm ist in Deutschland, bleibt immer häufiger dauerhaft arm. Ein Aufstieg ist in den vergangenen Jahren deutlich weniger Menschen gelungen als beispielsweise noch in den Neunzigerjahren.
Wir sollten sehr genau hinsehen und zwischen einzelnen Gruppen unterscheiden. So gibt es zum Beispiel einen neuen türkischen Mittelstand. Viele türkische Migranten waren über viele Jahre hinweg fester Bestandteil der unteren zehn bis fünfzehn Prozent der Einkommensgruppen. Sie selbst oder ihre Kinder haben aber den Sprung ins Mittelfeld geschafft. Und wenn man einen Blick in die Bildungsforschung wirft, dann sieht man, dass viele türkische Mädchen zu ausgesprochenen Gewinnerinnen unseres Bildungssystems gehören. Wir erkennen also durchaus einige positive Entwicklungen. Inzwischen werden auch ganz andere Anstrengungen unternommen, beispielsweise im Bereich der frühkindlichen Förderung. Ich bin gespannt, wie sich die Situation in fünf oder zehn Jahren darstellen wird. Und ich hoffe sehr, dass wir bei der nächsten Generation weitere Schritte nach vorne sehen. Unsere Arbeitshypothese lautet: Frühe Förderung und Bildung steigern die Aufstiegschancen.
Wir haben über die unteren zehn Prozent gesprochen, lassen Sie uns mal über die weiteren Gruppen sprechen, die untere Mittelschicht und die Mittelschicht. Ich habe den Eindruck, dass zunehmend mehr Menschen davon berichten, sehr viel zu arbeiten, dass es aber trotzdem fast nicht zum Leben reicht.
Es gibt heute sicher mehr Menschen mit unsicheren Lebensperspektiven. Das betrifft beispielweise jene, die über viele Jahre hinweg unter Dumpinglöhnen leiden. Betroffen sind auch Beschäftigte in der Zeitarbeitsbranche, sie arbeiten häufig in Teilzeitjobs. Solche unsicheren Perspektiven machen etwas mit den Menschen. Wenn man eine unbefristete Vollzeitstelle mit Sozialversicherungspflicht hat, fühlt sich das anders an. Es ist richtig, dass die SPD diese Unsicherheiten soweit wie möglich beseitigen möchte. Der Mindestlohn war dazu sicherlich ein erster guter Schritt. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Menschen abgehängt werden vom Rest der Gesellschaft oder sich zumindest so fühlen.
„Fühlen“ ist ein gutes Stichwort. Haben Sie auch den Eindruck, dass es momentan sehr oft eher um Gefühle geht als um tatsächliche Probleme in unserer Gesellschaft?
Stellenweise ist das sicher so. Aber beim Thema unsichere Arbeitsverhältnisse ist das Gefühl nachvollziehbar. Wir müssen in unserer Gesellschaft generell mehr darauf achten, dass wir beieinander bleiben. Es ist nicht gut, wenn die Einkommensschere immer weiter auseinandergeht.
Wir haben ja momentan eine Arbeitslosenquote, die sich eigentlich sehen lassen kann. Aber wir haben seit Jahren auch einen Zuwachs der atypischen Jobs in Deutschland. Es arbeiten tatsächlich immer mehr Menschen in Teilzeit, Minijobs, befristet oder in Leiharbeit. Unterm Strich sagen manche, ist die Arbeit nur anders verteilt, die Jobs sind kleiner und weniger lohnend geworden.
Auch hier muss man wieder sehr genau differenzieren. Wir haben zum Beispiel in Niedersachsen im vergangenen Jahr 67.000 neue sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze hinzubekommen. Aber wir hatten über die vergangenen zehn, fünfzehn Jahre auch deutliche Zuwächse bei der Leiharbeit und bei den befristeten Jobs. Ich würde mir wünschen, dass nach dem Mindestlohn in der nächsten Legislatur die sachgrundlosen Befristungen abgeschafft werden. Arbeitsverhältnisse sollten nur dann befristet werden können, wenn es plausible Gründe dafür gibt. Die unsicheren Lebensperspektiven sind auch für unsere gesellschaftliche Entwicklung ein Problem. Ich höre das immer wieder auf Bürgerversammlungen, wenn es um die Themen Familienfreundlichkeit und Kinderfreundlichkeit geht. Da wird dann gesagt: Wenn mein eigenes Leben unsicher ist, wenn ich nicht genau weiß, wie es weitergeht, wie kann ich dann eine Familie gründen?
Manche sehen ja einen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Spaltung hinsichtlich der Unterschiede zwischen Arm und Reich und der momentanen Stärke der AfD. Und es liegt vielleicht nahe, diesen Zusammenhang herzustellen. Wer einen sicheren Job hat und eine gute Perspektive, der kommt eventuell nicht so schnell auf die Idee, den Populisten nachzulaufen. Sehen sie da einen Zusammenhang?
Das gilt keinesfalls generell, das zeigen auch die Wahlanalysen. Die AfD bekommt Stimmen aus den unterschiedlichsten Teilen unserer Gesellschaft. Auch unter Leuten, die tarifgebunden arbeiten und sichere Arbeitsplätze haben, gibt es teilweise heftige Diskussionen zum Thema AfD. Auch dort fühlen sich manche zu so einer Form von Populismus hingezogen. Die Schlussfolgerung, dass diejenigen die AfD wählen, die unsichere Lebensbedingungen haben, greift zu kurz.
Die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich ja auch im Internet. Wir sehen an vielen Stellen eine verbale Verrohung und Radikalisierung. Ein Teil der Gesellschaft verabschiedet sich dort von allen demokratischen und moralischen Grundprinzipien. Sehen Sie Wege und Möglichkeiten, mit diesem Teil unserer Gesellschaft wieder ins Gespräch zu kommen?
Das muss man auf jeden Fall immer wieder versuchen. Ich freue mich beispielsweise, wenn auf diffamierende Facebookeinträge andere Nutzer kritisch reagieren. Auch meine Mitarbeiter und ich beanstanden in den sozialen Medien verbale Entgleisungen und versuchen, die Pöbelnden zu einer sachlichen Diskussion zurückzuführen. Im tatsächlichen Leben treffe ich aber nur selten auf Menschen, die sich – mir gegenüber – aggressiv und plump ausgrenzend äußern, wie das im Netz allzu oft passiert. Nun hört man ja in diesem Zusammenhang oft, dass man in Deutschland seine Meinung nicht frei sagen dürfe, beispielsweise wenn es um das Thema Ausländer geht. In Umfragen sagen das offenbar viele der Befragten. Ich halte das für kein gutes Zeichen. Ich nehme an, dass ich in vielen Punkten nicht einer Meinung bin mit diesen Menschen. Aber ich wünsche mir ein gesellschaftliches Klima, in dem man sich in Ruhe, freundlich und vernünftig miteinander über Ängste und Vorbehalte austauschen kann. Es wäre nicht gut, wenn viele den Eindruck hätten, dass es besser ist, die Klappe zu halten außerhalb des Internets. Wir müssen es neu trainieren, vernünftig miteinander zu diskutieren. Das sollte bereits in der Schule beginnen. Ich wünsche mir offene Diskussionen eigentlich überall, in der Schule, am Arbeitsplatz, in den Familien. Wobei ich beim Thema Diskussionskultur zugeben muss, dass die Politik teilweise kein besonders gutes Vorbild abgibt. Ich wünsche mir, dass wir sowohl im Netz als auch im realen Leben zu einer offenen Diskussionskultur zurückfinden. Momentan gibt es jene, die laut schimpfen, und andere, die diese Leute allesamt für Rechtsaußen halten. Wir müssen wieder lernen, vernünftig miteinander zu reden und respektvoll miteinander umzugehen.
Interview: Lars Kompa