Neu im Stadtkind und ganz was feines: Ein Fortsetzungsroman!
1. Kapitel: Unter Druck
In „Undercover an der Leine“ wird die Geschichte des Stadtmagazins Schaumschläger erzählt: Der kleine Verlag wird von dem Medienkonzern Dr. Hase zugekauft. Die freakigen Mitarbeiter des linksalternativen Schaumschlägers müssen nun in das große Dr.-Hase-Hochhaus umziehen und sich dort an neue Gegebenheiten gewöhnen. Horst Bauer, der Chefredakteur des Schaumschlägers, und seine Leute treten in viele Fettnäpfchen und verstehen weder die Sprache der Digital Natives noch die der stromlinienförmigen Karrieristen. Und auch die Mode der Hipster ist ihnen fremd. In diesem Kapitel erfahren Stadtkind-Leser, wie Horst und seine Crew in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das letzte Heft vor dem Umzug in ihrem alten Büro produzieren.
22.30 Uhr. Er nahm den Bleistift in die Hand, drehte ein wenig damit in seinen grau melierten Locken und schob ihn dann wie gewohnt in den Mund, um darauf rumzukauen. Horst Bauer war ein Mann der alten Schule. Heutzutage gab es andere Methoden, um einen Text zu korrigieren, die meisten saßen dabei am Bildschirm. Doch er druckte Manuskripte nach wie vor aus und las sie auf dem Papier. Er ruckelte an seiner dicken Brille und starrte auf die Seiten, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
Linn hatte eine Titelgeschichte über Glück geschrieben. Eine Titelgeschichte? Na ja, oder eher ein Pamphlet? „Glück ist immer eine gute Sache, man kann nicht genug davon kriegen“, hatte Linn ihn in der Redaktionskonferenz von der Dringlichkeit des Sujets überzeugt. Und nun lieferte sie ihm seitenweise den üblichen wohlfühlpsychologischen Schmu. „Sobald die materiellen Grundbedürfnisse gesichert sind, steigt der Grad der Zufriedenheit nicht mehr an, haben Forscher festgestellt. Da kommt der Sinn ins Spiel“, schrieb sie und zählte im nächsten Absatz längst bekannte Infos auf: Faktoren für Glück wie Gesundheit, Familie, Arbeit und Freundschaft, dann das Experiment mit den dauerglücklichen Ratten, die tagelang den Orgasmusknopf drücken und so lange das Belohnungssystem in ihrem Hirn stimulieren, bis sie tot umfallen. Ja, das war alles richtig, schön und gut, aber viel zu langatmig, dachte Horst und strich die ersten Passagen großzügig zusammen. Weg damit! Das Kürzen war ihm ein Wohlgenuss, das Kürzen war sein Job. Kürzen für den Frieden und kürzen, um die Ordnung der Dinge wiederherzustellen. Denn das verstanden die wenigsten, dass ein Text durchs Hinzufügen nur verlieren konnte und dass das Wesentliche durch Auslassungen entstand. Sein Handy klingelte. Else! „Wir müssen reden.“ „Geht jetzt nicht, Else. Wir tüten gerade das Heft ein.“ „Dann ruf mich morgen früh an, es geht um deine Tochter Elsa.“ Deine Tochter Elsa! Immer wenn Elsa was verbrochen hatte, verwendete seine Frau Else die Wörter „deine Tochter Elsa“. Und jetzt hatte sie einfach aufgelegt, typisch! Horst riss seine kastanienbraunen Knopfaugen auf und drehte sie einmal Richtung Decke.
22.50 Uhr. Wie schnell doch die Zeit verging. Er steckte sich noch eine Ernte 23 an und checkte die E-Mails an seinem Rechner. Einige Kunden hatten ihre Anzeigen für das Heft, das morgen in Druck gehen sollte, noch nicht geschickt. Doch Horst war unbesorgt, die Deadline hatte er noch nie in den letzten 35 Jahren geschmissen. Nur einmal, als der Server explodiert war, gab es ein paar Schwierigkeiten.
Rauchschwaden hingen in der Luft, und um ihn herum herrschte das reinste Chaos. Papierberge, Zeitungen und Magazine stapelten sich hinter seinem Rücken. Außerdem hatte er seinen halben Hausrat, Möbel, Bücher, Instrumente, Bilder und ein mittelgroßes Aquarium mit Warmwasserfischen in der Redaktion abgestellt. Kurzfristig, weil Else ihn verlassen hatte und er ein Zimmer in der Wohnung von Lutz bezogen hatte. Eigentlich war sein Kumpel und Kollege Lutz der Messie von den beiden, Horst hingegen hasste Unordnung wie die Pest. Doch seit sein Privatleben den Bach runterging und Else sich bei einem Yogakursus auf La Gomera in einen zehn Jahre jüngeren Typen verknallt hatte, waren die Dinge ein wenig aus dem Ruder gelaufen.
Nebenan schepperten relaxte Reggae-Grooves aus den Musikboxen: Lutz hatte wieder seine fünf Minuten! „Is This Love“ von Bob Marley war einer seiner Lieblingssongs, mit dem der alte Haudegen und Berufsjugendliche vermutlich die Tatsache feierte, dass ihm eine halbwegs elegante Glosse gelungen war. Jetzt hörte Horst schallendes Gelächter aus dem Nachbarraum. Lutz flachste wohl mit Linn, nein, er flirtete wahrscheinlich mit ihr, versuchte es zumindest, dachte Horst grinsend, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Yogi-Teetasse und zündete sich noch eine Zigarette an.
Im Dr.-Hase-Hochhaus würde es kein Raucherzimmer mehr für ihn geben. Dort würde er mit den anderen in einem verglasten Großraumbüro sitzen. Zum Quarzen müsste er vor die Tür gehen. Ein großer Hühnerkäfig, eine Legebatterie und ein eisiger Wind, der ihm entgegenblies, so stellte Horst sich die neue Situation vor. Es schauderte ihn, er beruhigte sich aber schnell wieder. Der Deal mit der Dr.-Hase-Gruppe war unausweichlich gewesen, finanziell gesehen ging es dem Schaumschläger schon seit Langem dreckig. Horst hatte freiwillig an die Türen des Medienimperiums geklopft und wurde freundlich von den Gesellschaftern des Hauses empfangen.
Der ausgehandelte Vertrag erschien ihm fair. Jeder bekam einen Teil vom Kuchen ab, wirtschaftlich würde man an einem Strang ziehen. Dr. Hase konnte den Anzeigenmarkt des Stadtmagazins beackern und „Synergien schaffen“, wie es Frank Backhaus, der Chairman des Unternehmens, ausgedrückt hatte. Und Horst war als Chefredakteur weiterhin für den Schaumschläger verantwortlich. Dafür hatten die Juristen ein wasserfest erscheinendes Konstrukt für einen Verlag mit mehreren Gesellschaftern entworfen, die über ein seltsames Geflecht miteinander verbunden waren, ein kompliziertes Papier in verklausulierter Fachsprache mit langen Passagen über Rechte und Pflichten, das Horst ganz schwindelig machte. Dennoch erschien ihm die Kooperation mehr als sinnvoll, denn es war höchste Zeit, den Schaumschläger fit fürs neue Jahrtausend, internetfit, zu machen. Und Dr. Hase verfügte über das entsprechende Know-how und die finanziellen Mittel.
Clara und Linn öffneten die Tür. „Wir hauen ab. Die Programmseiten sind im Kasten“, sagte Clara, die heute – wie so oft in ihrem Leben – schwarz trug. „Hau nicht mehr so doll über die Stränge“, frotzelte Linn und machte eine wischende Handbewegung, um Horst zu signalisieren, dass die Luft im Raum dick war. „Ja, ja, geht nur! Sonst seid ihr morgen wieder schlecht drauf“, rief er ihnen hinterher und schaute noch einmal auf die Uhr. 23.25 Uhr. Die Nacht war jung, und es gab noch einiges zu tun. Auf Horst warteten eine kalte Pizza und das Glück. Acht Stunden blieben ihm, um die letzten Seiten des Schaumschlägers in Druck zu bringen.
Simone Niemann