Aus der Rubrik „Die Erleuchtung – Über menschliche (Irr)Fahrten ins (Un)Glück“:
Neulich habe ich mich gefragt, warum auf Partys immer Frauen mit dem Tanzen anfangen. Und zwar meist so eine üppig Bestückte in einem eng anliegenden Kleid, die keiner kennt und die der Freund des Freundes einer Freundin mitgebracht hat. Die Dralle präsentiert also wagemutig ein paar expressive Moves auf dem Dancefloor. Und dazu gesellen sich so nach und nach weitere Uschis. Die Männer beobachten das Geschehen derweil erst mal aus sicherer Entfernung und mit kritischer Distanz wie Jäger auf der Pirsch und wagen sich erst dann auf die Tanzfläche, wenn die so voll ist wie eine Haubitze und es eh keiner mehr mitkriegt, was sich auf dem Parkett abspielt.
Nehmen Männer das Thema Tanzen nicht ernst? Haben sie Angst, dass der Satz gilt „Zeige mir, wie du tanzt, und ich sage dir, wer du bist“? Oder bewegen sie sich generell nicht gern zur Musik, weil es ihnen peinlich ist, offensichtlicher zu balzen als nötig und plötzlich sexy mit dem eigenen Body zu sprechen? So nach dem Motto: Deutsche Männer zupfen sich ja auch nicht die Augenbrauen, die sind schließlich nicht so schwul wie Ronaldo! Überhaupt kümmern die sich nicht so um den eigenen Körper und sein Wohl und gehen erst zum Arzt, wenn der Tod schon an die Tür klopft. Ergo: Tanzen als Wellnessfaktor fällt bei denen flach.
Um mehr über das offenbar seltene Phänomen des tanzenden Mannes in Erfahrung zu bringen, habe ich bei Youtube eifrig nach Videobelegen gesucht und bin nun einigermaßen schockiert: Der tanzende Mann, der einfach so aus Jux und Tollerei abhottet, ist im Netz kaum anzutreffen und stirbt womöglich aus. Gibt man Begriffe wie „Mann“ und „Tanz“ in die Online-Search-Maske ein, finden sich Clips zu Themen wie Fußball und Kanufahren. Hingegen habe ich nur einen Opi entdeckt, der eine flotte Sohle aufs Parkett legt und noch weiß, wie es geht (youtube.com/watch?v=c33zgTbJ0kE). Zu meinem großen Bedauern musste ich außerdem feststellen, dass ein Mann im besten Alter wie Barack Obama, der in einer Talkshow sexy zu Beyoncés „Crazy In Love“ die Hüften schwingt und so für ein großes Gejohle der Frauen sorgt, ebenfalls zu einer marginalen Randgruppe zählt (youtube.com/watch?v=RsWpvkLCvu4). Und sogar Bewegungslegastheniker und Typen der sympathischen Marke tapsiger Tanzbär, also mutige Menschen, die nicht tanzen können, es aber trotzdem in aller Öffentlichkeit tun und verdammt viel Spaß dabei haben, tummeln sich kaum noch in freier Wildbahn und auf weiter Partyflur.
Auffällig ist hingegen, wie bescheuert viele Leute heute tanzen, da habe ich einige Belege gefunden. Zum Beispiel zig Amateurvideos von Festivals, die zeigen, dass die Generation Y anno 2017 lieber mit dem Smartphone rumfuchtelt als Beine und Hüften zu bewegen. Sehr beliebt ist auch der Schöne-geile-Leute-Move mit möglichst wenig Expression, damit die Schminke nicht verrutscht, und der geht so: In einer megagroßen Pläsierkaserne steht ein DJ der Marke David Guetta auf der Kanzel und hebt seinen Arm zum Gruße der Propheten wie einst Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Sportpalast, und Tausende tun es ihm gleich, irrsinnig bewegt und angetan von der totalitären Kulisse. Noch anzutreffen sind außerdem die abgefuckten Tanzstile der Raver, die als Nachfahren von Milli Vanilli und der ersten Generation Techno durchs Netz trampeln: Tanzen bis zum Umfallen und die Pillen nicht mehr wirken ist nach wie vor deren Maxime. Und so dancen sie sich als Tekkno-Viking etc. zu Trance und Hardjump die Seele aus dem Leib (youtube.com/watch?v=YAYkbxQp0m8).
Meine These: Der Körper ist im Jahr 2017 nicht so befreit wie der anno 1968. So ein lässig aus dem Ärmel geschütteltes Soul-Ding à la
Obama gibt es kaum noch. Entweder zappeln und wedeln alle doof mit ihren Mobiltelefonen rum oder der Tanz artet in Hochleistungssport aus. Der frei improvisierte Schwof, so wie ich ihn kenne, also der „Hottentottentanz“, wie ihn meine Mutti als eingefleischte Standardtänzerin nennt, scheint jedenfalls – so wie das Auto für Selbstfahrer – ein auslaufendes Modell zu sein.
Spirituelle Erbauungstänze, Volkstänze wie der Gummistiefeltanz, Gesellschaftstänze und Kunsttänze führen ja eh schon lange ein Nischendasein. Die Tänze der 60er- bis 90er-Jahre, mit denen ich groß geworden bin, gehören nun auch bald der Vergangenheit an und können dann vermutlich nur noch als historische Relikte auf Netflix und im Internetmuseum begutachtet werden. Früher. Die letzten Omis werden sich noch gut erinnern. An den üppigen Ausdrucks- und Fruchtbarkeitstanz der ersten Hippiefrauen. Und dann Disco: Wie der junge Gott John Travolta eine Allegorie der Sonne auf dem Dancefloor kreiert hat. Progrock: Als die beste Tänzerin der sechsten Klasse sich so sexy in der Aula zu „Owner Of A Lonely Heart“ bewegt hat, dass ein paar Mitschüler ohnmächtig geworden sind. Ghetto-Rap: Meine ersten Breakdance-Versuche vor dem Spiegel. Tja. Die ganz großen Momente, in denen es hieß: Ausrasten! Salvation! Legendäre Momente aus Filmen wie „Flashdance“. Und Erinnerungen an diese eine Frau in „La Boum 2“, die in der Konzertszene mit Cook Da Books zu „Silverman“ ausflippt (ab Minute 23 zu sehen auf youtube.com/watch?v=YrBM0cNKlvw).
Und nun? Ist der Ausblick wirklich so düster? Oder hat DJ Fetisch recht, der sagt, dass auf der Tanzfläche wieder „mehr der Arsch im Einsatz“ ist? Ganz gleich, in welche Richtung wir uns auch bewegen mögen, mein Fazit fällt negativ aus. Männer meines Alters müssen jedenfalls meist auf die Tanzfläche gestoßen werden, da hat sich seit Ekel Alfred nicht viel getan. Es läuft also wie bei den Tetzlaffs. Wenn Else Alfred zum Tanzen auffordert, geht der Dialog so: „Komm.“ „Wohin?“ „Tanzen!“
Simone Niemann