Verdachtsunabhängige Slapstickverfolgung

Die Kolumne des Monats von Hartmut El Kurdi:

Ich hatte bei einem beruflichen Hamburg-Besuch überraschend dreißig Minuten zu überbrücken und wusste nicht wohin mit mir: Kaffee hatte ich getrunken, satt war ich auch, mein Freund Matthias war telefonisch nicht zu erreichen, es regnete …. Aber gab mir diese leichte Unbill wirklich die moralische Legitimation, den plötzlich vor mir auftauchenden „Manufactum“-Laden zu betreten?

Ich googelte, ob Dr. Dr. Rainer Erlinger sich schon einmal im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“  zu diesem Problem geäußert hatte. In seiner Briefkastenonkel-Kolumne „Die Gewissensfrage“ lässt sich Erlinger  von SZ-Lesern zu moralisch verzwickten Themen befragen. Es geht um komplexe Sachverhalte, mit denen die Fragesteller offensichtlich überfordert sind. Erlinger antwortet kompetent: als Kreuzung aus Priester und parlamentarischer Ethik-Kommission. Es sind Fragen wie – ich zitiere wörtlich – : „Sollte man eine Tomatenpflanze nach der Ernte weiter pflegen, auch wenn man weiß, dass sie den Winter nicht überleben wird?“ (gestellt und beantwortet in Heft 36/2014). Oder: „Darf man beim Gassigehen mit dem Handy telefonieren oder sollte man seinem Hund stets die volle Aufmerksamkeit schenken?“ (Heft 20/2014). Auch schwierig, in Heft 11/2015: „Wenn man keine Oliven auf der Pizza mag – soll man diese beim Kellner abbestellen oder lieber übrig lassen?“ Aber anscheinend hatte Doppeldoktor Erlinger – der interessanterweise weder studierter Theologe noch Kniggerianer ist, sondern Jurist und Mediziner – auf alle wichtigen Menschheitsfragen schon einmal geantwortet, nur nicht auf eine, nämlich meine: „Darf man aus purer Langeweile in einer fremden Stadt die Kontrolle über sich verlieren und bei ‚Manufactum‘ einkehren?“

Egal, ich betrat den Laden. Sofort hefteten sich zwei Verkäufer-Augenpaare auf mich. Ich kam mir vor, als schlenderte ich mit einem toten Schwein über der Schulter in ein veganes Restaurant. Nicht dass ich sonderlich auffällig wäre, aber hier reichte es wohl, leicht kanakoid auszusehen und ein paar Goldringe im Ohr zu haben, um zum „talk of the shop“ zu werden. Erschwerend kam sicher hinzu, dass ich keine Barbourjacke oder Burberry-Socken trug.

Ich flanierte umher, nahm hier einen „Amish Handquirl“, dort einen „Mühle Rasierhobel“ in die Hand – da bemerkte ich, wie mich einer der Verkäufer verfolgte. Im Vierfünf-Meter-Abstand. Blieb ich stehen, blieb er stehen. Ging ich weiter, ging auch er weiter. Schaute ich ihn an, schaute er ruckartig weg und ordnete konzentriert die vor ihm im Regal stehenden Waren. Wäre er im nächsten Moment als gelber Postkasten verkleidet zu Ragtimemusik hinter mir her getippelt – es hätte mich nicht überrascht.

Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich etwas Ähnliches schon einmal erlebt hatte, vor 20 Jahren, ebenfalls in Hamburg. Ein Freund empfahl mir damals, ich solle mir doch das Hamburger Literaturhaus ansehen. Dort gäbe es ein nettes Café und einen hübschen Buchladen. Also ging ich ins Literaturhaus, trank Kaffee und betrat dann die Buchhandlung. Ich tat das, was man in Buchhandlungen so tut: das Angebot sondieren, Klappentexte lesen, Bücher aufschlagen und Seiten überfliegen. Nach einigen Minuten bemerkte ich, dass mich der Buchhändler nervös beobachtete. Schließlich – vielleicht nach einer Viertelstunde – ging er hektischen Schrittes  auf mich zu und sagte: „Wir legen hier keinen Wert auf Stöberer! Verlassen Sie sofort meinen Laden!“

Ansatzlos begann er mich in Richtung Ausgang zu drängen, in einer Mischung aus Aggression und Buxevoll. „Bitte gehen Sie! Bitte gehen Sie!“ Er schubste mich mehrmals leicht. Als ich ihm sagte, er solle mich bitte nicht anfassen, schrie er hysterisch: „Wenn sie mich schlagen, hole ich die Polizei!“ Schließlich schaffte er es wirklich, mich aus der Tür zu drängen. Desorientiert stand ich auf dem kleinen Treppchen, das vom Gehweg zur Eingangstür des Literaturhauses führte. Mal abgesehen von dem irren Buchhändler kam ich mir vor wie eine lebende Metapher für ein gesellschaftliches Problem: Mit sozialdemokratischen Bildungsversprechen heiß gemacht, dann aber kurz vorm Kultur-Koitus in Unterhosen vor die Tür gesetzt.

Jahre hatte ich nicht daran gedacht. Und obwohl es hier nicht um Kultur ging, sondern nur um Konsum, erinnerte ich mich im Manufactum-Laden an dieses kurios-eklige Gefühl. Also stellte ich den „Gutenberg Gummierstift“ zurück und nickte meinem Schatten im Vorbeigehen aufmunternd zu. Er zuckte nur leicht. Dann verließ ich das Geschäft.

Hartmut El Kurdi


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